PREDIGTTEXT aus dem Lukasevangelium, Kapitel 22,47-53 Als Jesus noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.
GEDANKEN
Es ist eine emotional aufgeladene Geschichte. Angst und Enttäuschung, Gewalt und Mut, Freundschaft und Verrat, die Zärtlichkeit einer heilenden Berührung und ein Kuss, der vielleicht mehr schmerzt als das Schwert. Wie Jesus ihn wohl angeschaut hat, den Judas. Verwundert? Fragend? Wissend? Enttäuscht? Und Judas? Konnte er Jesus in die Augen schauen? War es ein herausfordernder Blick? Ein zorniger? Ein verzweifelter? Oder einer, der gerade in Reue umschlägt?
Es wird viel gerätselt, was Judas bewog, den Behörden Jesu nächtlichen Aufenthaltsort zu verraten. Wollte er, dass Jesus sich den Herausforderern stellt, dass er zeigt, wer er ist? Oder war er in seinen Erwartungen an Jesus enttäuscht? Oder musste es einer tun – Jesus verraten – weil es so bestimmt war, und war Judas der arme Teufel, den es getroffen hat? Nur Teil eines größeren Plans? Und man macht ihn für Jesu Tod verantwortlich. Aber war er das? Seine Gegner hätten Jesus auch so gefunden. Das sagt er auch selbst. „Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen...“ Und doch. Jetzt, in der Nacht, kommen sie, in Begleitung seines Freundes und verhaften ihn gewaltsam, an einem Ort, der für ihn Sicherheit bedeutet hat.
Aber trotz der Enttäuschung, die in Jesu Worten mitschwingt, trotz der Resignation gegenüber der Übermacht der Gewalt und trotz der realistischen Erkenntnis: das ist die Macht der Finsternis, ist da ein heller Moment. Ein heilender: ‚Nicht weiter‘, sagt Jesus und stoppt seine Freunde, nachdem einer von ihnen einem der Anrückenden ein Ohr abgeschlagen hat. ‚Lasst es gut sein‘. Jesus schützt damit nicht nur die Gegner, sondern auch sie. Und dann rührt er das Ohr des Mannes an, der vom Schwert getroffen worden ist, und heilt ihn.
Eine Atempause der Gewalt. Eine Geste der Menschlichkeit. Und etwas darf wieder gut werden, beziehungsweise heil bleiben. Ein Funke Menschenwürde selbst in so einer Situation.
Pfarrerin Anneliese Peterson
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